lost leaves

Serie von Photogrammen auf HP Matte Litho-realistic,
7 davon als Edition für die Griffelkunst.

Text von Stephanie Bunk zur Edition lost leaves #1 – #7:

 

 

Zwischen zwei Blättern

von Stephanie Bunk

Etwa zur gleichen Zeit wie die Photographie wurde auch das Photogramm erfunden. Da es ohne Kamera durch den direkten Kontakt zwischen Objekt und Photo-Papier entsteht, versprach es in den 1840er-Jahren perfekte dokumentarische Abbildungen der Natur. In dieser Zeit entstanden Pflanzenbilder von großer, ästhetischer Schönheit, allen voran von Anna Atkins. Sie nutzte für ihre Photogramme das Edeldruckverfahren der Cyanotypie, bei der sich das Papier nach der Belichtung tief blau verfärbt. Erst später in den 1920er-Jahren entdeckten etwa zeitgleich Man Ray, Christian Schad und László Moholy-Nagy diese einfache Technik für die Kunst. Floris M. Neusüss brachte diese und andere Klassiker in die griffelkunst ein und schuf selbst eindrucksvolle Photogramme von Blumen.

Auch Eske Schlüters hat für ihre Griffelkunst-Edition Photogramme entwickelt. Sie erinnern an Philipp Otto Runges Scherenschnitte aus dem 18. Jahrhundert, die ganz im Sinn der Romantik die Schönheit der lebendigen Natur zeigen, und an die Photographien von Karl Blossfeldt. Er sah in Pflanzen »Urformen der Kunst«, die er für die Verwendung als Lehrmittel sammelte, präparierte und photographierte. Doch in einem wesentlichen Merkmal unterscheiden sich Schlüters’ Photogramme von den berühmten Vor-Bildern: Die Pflanzen auf ihren Bildern sind längst ausgestorben. Sie sind verschwunden, sodass sich nicht einmal mehr in Botanischen Gärten letzte Exemplare finden lassen. Die Künstlerin hat sie zwar gesucht und gesammelt, doch nicht in der freien Natur. Sie hat sie aufgespürt in Archiven, wo die Blüten und Blätter der Pflanzen in Herbarien getrocknet die Zeit überdauert haben. Dieses Vorgehen verrät viel über die künstlerische Strategie von Eske Schlüters, denn sie ist weder Romantikerin noch Photographin, sondern im Gegenteil eine analytische Erforscherin von Bildern und ihrer Wirkung. Sie experimentiert mit komplexen Installationen aus filmischen Projektionen und skulpturalen Photoarbeiten, die eine offene Erzählweise ermöglichen. Gefundenes Material kombiniert sie mit Text, Sound und Bildern zu vielschichtigen Annäherungen an Fragen aus den Bild- und Kunstwissenschaften. Zu Ludwig Wittgensteins Aussage: »Alles kann ein Bild von allem sein« hat sie ihre künstlerischwissenschaftliche Promotion an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg abgeschlossen und 2021 als Buch veröffentlicht.

Wie macht man ein Bild von etwas, das nicht mehr ist? Wie kann ein Photogramm von etwas Verschwundenem gelingen? Ein Bild von Nichts? Gerade dieser Widerspruch hat Eske Schlüters an der Serie lost leaves interessiert, denn ein Photogramm setzt – wie die Photographie überhaupt – einen Gegenstand voraus, dessen Spur durch das Licht auf dem Papier verbleibt. Photogramme sind Leerstellen, denn das Bild entsteht erst aus dem Fehlen des einmal Dagewesenen. In diesem Sinne sind auch die Arbeiten von Schlüters Photogramme, denn sie zeigen das Fehlen der ausgestorbenen Pflanzen an, durch die sie erst ermöglicht wurden. Sie sind ein Paradox, das zum Nachdenken über Echtheit oder Authentizität vor dem Hintergrund der Digitalisierung der Photographie anregt, denn erst durch sie gelingt die Rekonstruktion des Verschwundenen. Der Immaterialität der verlorenen Blätter setzt Schlüters die besondere Haptik des samtigen Papiers entgegen, das an die Oberfläche von Blättern erinnert und auch genauso empfindlich und verletzlich ist. Man muss die Prints mit besonderer Vorsicht behandeln, wenn man sie erhalten will. Denn nicht nur Pflanzen sind vom Aussterben bedroht, sondern auch Techniken, Papiere und Menschen, die sie zu nutzen vermögen.